2.5.05

E x c l u s i v

Roger M. Fiedler
Eine Schweizer Gute-Nacht-Geschichte


SesselIch saß damals in einem Hotel in Zug in der Schweiz. Das Hotel hieß Zimmer, was später am Abend noch ein großes Thema werden sollte. Es war nichts los in diesem Hotel, weder im rustikalen "Kaminsims", dem angegliederten Bistro-Restaurant, noch beim Frisör in der Halle, noch in den knautschigen Ledersesseln im Entrée herrschte Betrieb. Mehr als ein hinter den monumentalen Glasscheiben draußen in der Ferne im Städtchen bellender Hund war nicht zu hören, und zu sehen gar nichts als ruhende Berge. Ich las eine im Foyer liegende Zeitung und trank erst Kaffee, dann, als ich wußte, von welcher Qualität er war, stieg ich auf ein Lammsbräu Weizenbier um und versuchte, aus Langeweile, das Synonymenrätsel der Zeitung zu lösen, als sich jemand von hinten an mich schlich. Sischt ki guati Ziet - oder so ähnlich hörte ich ihn sagen. Das Schweizer Idiom findet keinen rechten Eingang in mein Ohr, und wenn es einen fände, entzöge es sich dahinter der Aufnahme durch einen bockenden Gehirnlappen, und würde dieser es akzeptieren, nähme der ausgelöste Gedanke wahrscheinlich die Gestalt eines Urschlammwesens an, einer Verbalamöbe.

Ich antwortete in dem mir eigenen Urschlammidiom, dem Niederrheinakzent, den ich in seltenen Momenten reaktivieren kann, um Waffengleichheit herzustellen: Bisse mit mich an spräke, Jung? (Sprichst du mit mir, Bursche?) Es war der Portier. Er hatte gerade die Spätabendssoap des Schweizer Fernsehens hinter sich gebracht, und nun war ihm nach Trost zu Mute, wie es schien. Der Portier blickte mich streng an, so als wollte er mir verbieten, mit dem Kugelschreiber in seinem Zeitungsrätsel zu krakeln. Seine Zeitung, sein Rätsel, dachte ich. Wahrscheinlich hatte ich ihm eines aufgesparten Vergnügens für die langen Nachtstunden beraubt, der Lösung dieses Rätsels, wahrscheinlich seine beliebteste Nachtbeschäftigung, die Beschäftigung eines Nachtportiers. Ich legte das Rätsel zur Seite.

Den Portier mochte ich auf Anhieb. Ein längliches Gesicht mit einem offenstehenden Pferdegebiß, der Typ Fernandel in Pagenkleidung. Etwas Faustisches ging von ihm aus. Er wirkte ein bißchen wie ein verkleidetes Genie, ungarischer Universitätsprofessor im Nebenerwerb, hätte ich getippt, wäre da nicht diese Sprache gewesen. Diesen Dialekt kann man nicht imitieren. Der wird einem in die Wiege gelegt. Dieser Mann hier war Schweizer Urgestein.

Samstag abend, nichts zu tun, kaum Gäste da und nur mäßig gute Laune. Er war gekommen, um mich in die Pfanne zu hauen, das spürte ich instinktiv. Ich war mir sicher, es lag an dem Rätsel, das ich ihm weggenommen hatte. Es schwang in seiner Stimme, es glänzte in seinen Augen, es bog seine Mundwinkel zur schelmischen Grimasse. Es legte seine Zähne frei. Der Beißtrieb.

Gut, dachte ich, warum nicht? und nahm noch einen Schluck Bier. Sofort schaltete der Herr auf die Sprache um, die er und ich, wüßten wir es nicht beide besser, Hochdeutsch nennen würden und kam auf nur kurzen Umwegen über die sonst zahlreicher anwesenden Gäste (Wissen Sie, wir haben gerade ein Länderspiel) auf den Namen des Hotels zu sprechen, Zimmer.

Es habe nämlich einen Detektiv gegeben, wie er früher in Hotels dieser Kategorie üblich gewesen sei, dieser habe Merder geheißen, was allerdings nicht von Belang sei. Doch dieser Merder, als man ihm habe kündigen müssen - Sie wissen ja selbst, wie es heutzutage ist - keiner findet mehr Arbeit - da habe dieser seinem Unmut Luft gemacht, sei die Gästekartei durchgeganen und habe drei Dutzend Ehepartner angerufen und angefragt, ob es der Frau / dem Mann (hier habe er sich eben in der Kartei nach jüngsten Gästen kundig gemacht) wichtig wäre, zu erfahren, daß der zugehörige Mann / die zugehörige Frau im selben Hotel Zimmer mit einer / einem Sowieso übernachtet habe.

Ich verstand. Hotel Zimmer - Hotelzimmer. Im selben Hotelzimmer übernachtet. Auf diese Weise sei es ihm gelungen, schätzungsweise ein halbes Dutzend Ehen ernsthaft zu beschädigen. So habe er sich damals Luft gemacht.

Wie, frage ich, was soll das heißen? Na, denken Sie mal! Er behauptet, Ihre Frau habe im selben Hotel Zimmer übernachtet wie der Herr soundso! Was würden Sie da denken?

TelefonNun, ich habe keine Frau, was die Sache erleichtert. Also bestellte ich mir noch ein Bier, der Portier brachte es und rundete seine Geschichte ab. Der Detektiv, der Merder, der hätte diese Anrufe nämlich alle von jenem Apparat aus geführt. Mit diesen Worten zeigte er auf ein altmodisches Wählscheibentelefon und nickte wissend. Auf Kosten des Hotels. Damit war alles bewiesen. Ich trank die Neige aus und ließ Bemerkungen fahren über Strauchdiebe der Grammatik und den Wert unterschlagener Leerzeichen. Hotelzimmer, Hotel Zimmer, tjaja, bestätigte der Portier versonnen, und es kam der Moment, in dem ich zweifelte, ob ich es mit einem Idioten, einem manisch depressiven Intellektuellen oder nur einem Verrückten zu tun hätte. Doch dann, mir wollten schon die Augen zufallen von meiner langen Reise, da wendete er sich noch mal auf seinem Rückweg zur Rezeption um und fuhr in der Geschichte fort.

Der Merder nämlich, der sei dann auf Jobsuche gegangen, und dann sei etwas wirklich bemerkenswertes passiert. Ob ich mir das vorstellen könne?
Nun, es fällt mir schwer. Ich stelle mir vor: eines seiner Opfer, ein Mann in den mittleren Jahren, habe hier gesessen, wo ich jetzt saß und sich nicht rühren wollen von seinem Platze, als wenn nicht der Hotelier selbst käme und sich bei ihm verantworte für die Ehe, die eines bloßen Unfugs wegen, wie sich bald herausstellt, geschieden worden sei. Es war ein Lehrer. Er hatte vor einem halben Jahr hier genächtigt, das stünde so im Buch, und einen Kongreß besucht. Merder hatte seiner Frau am Telefon (an jenem da) erzählt, daß dieser Lehrer - Laichler hieß er oder Raichler? - im selben Hotel Zimmer, naja, das wissen Sie ja schon, mit einer Frau soundso. Stellen Sie sich vor: geschieden die Leute!

Wie nennen Sie das? Zerrüttungsprinzip. In dem Gespräch nun wird das Tun des entlassenen Detektivs offenbar. Es paßt zusammen mit der Telefonrechnung, die, wie ich mir denken könne, exorbitant gewesen sei. Was also? Frage ich auch, und bemerke bei meinen Worten, daß das zweite Glas in meiner Hand rasend schnell seinen Inhalt verliert.

Damals sei einer jener schicksalträchtigen Sätze gefallen, die allzugerne vor Gericht zum Fangseil werden: er bringe ihn um, habe der Lehrer gesagt, er bringe den Hotelier um.

Umbringen? Den Hotelier?

Ah, jo, das habe er gesagt, genau so sei es gewesen. Wie man so etwas eben so sagt. Er selbst sage das dauernd, er, der Portier. Hier, sagt der Portier, in diesem Fauteuil habe er gesessen, und der Hotelier in meinem. Unwillkürlich hebe ich mich ein Stück aus dem Sitz und suche das Leder mit einem langen Blick nach Blutflecken ab. Der Portier läßt es zufrieden geschehen. Nach einer ziemlichen Weile raunt er mir von seinem Tresen aus zu: der Hotelier sei ein kluger Mann, der habe ihn rasch eines besseren belehrt. Daß nämlich der Merder allein die Schuld trage und den solle er, wenn schon einen, umbringen, den Detektiv. Das habe sich der Lehrer nicht zwei Mal sagen lassen.

Ach, was macht es den Portier glücklich, mich entspannt wieder in den Sessel sinken zu sehen nach all meiner Aufregung! Nur um dann noch nachzuschieben: in dem Fauteuil, aber das solle ich niemandem sagen, sei tatsächlich wer gestorben. Doch davon schwiege er, der Portier, anderen Gästen gegenüber wie ein Grab. Der Hotelier jedenfalls sei immer noch gesund. Aber den Merder, den hätte es übel erwischt. Wie du mir, so ich dir, sagt der Portier, verschwindet in seinem Kabuff und läßt mir Zeit zu denken. Ich blicke aus dem Panoramafenster, höre dem Hund draußen beim Bellen zu und denke, daß mich hier jemand gewaltig verarscht.

Fünfzehn Minuten später ist das Nachtgespenst wieder da. Die Geschichte geht weiter.

Der Merder käme nämlich gebürtig aus Prell. Das habe der Lehrer sich zu Nutze gemacht. Einen Menschen tötet man nicht, meint selbst der Portier, wenn man Lehrer ist. Man richtet ihn zu Grunde. Das hätten sie gelernt, die Pädagogen. Er sei also zu seinem neuen Arbeitgeber nach Basel gefahren und habe sich als behördlicher Amtsträger vorgestellt, womit er nicht gelogen habe, wie ich sehe, und daß man spaßeshalber seinen Arbeitsplatz schon mal Jugendverwahranstalt nenne, dafür könne er persönlich nichts. Der Herr Chef vom Merder sei ein Phillip Weiß gewesen, auch ein Hotelier, und der Merder sei also in neuer Stellung sein Hausmeister gewesen, bis der Lehrer Laichler oder Raichler eingetroffen sei. Er müsse, habe dieser gesagt, mit dem Herrn Weiß über Merders Vergangenheit plaudern. Derselbe habe nämlich lang in Zug gesessen, er sei dort ein stadtbekannter Preller, womit Raichler oder Laichler wiederum nicht gelogen habe, wie ich sähe. Ob das dem Herrn Weiß bekannt gegeben sei? Er wisse schon: in Merders Vita.
Jetzt schaut der Portier mich an: verstehen Sie? Er hat ja wirklich gesessen, dort im Kabuff bei der Arbeit.

Gesessen - gesessen, schön.

Das habe den Merder, behauptet der Portier, den Job gekostet. Und Laichler oder Raichler habe daran seinen Spaß gehabt. Nur nicht der Betroffene selbst. Der hätte nun noch weniger Chance gesehen, sein Schaf ins Trockene zu tragen und habe daher Basel verlassen müssen. Erst hier in Zug sei er auf seinen Gegner getroffen, den er vorher nicht zu Gesicht bekam. Sie wissen schon: das Wort ist wie ein Stein, der von einem hohen Berg fällt. Wen er trifft, der sieht oft nicht, wer ihn schmeißt.

Sessel"GebnSemir - nochnBier!" bat ich höflich. Und tappte zu meinem Sessel zurück. Wer hatte hier wen? Moment!, sortierte ich, da war der Merder, der Bote des fingierten Ehebruchs, da war der Laichler oder Raichler, dens erwischt, da war der Hotelier, der seine Haut noch rettet, und schließlich Weiß, der wie mein Portier weiß, den Merder aus seiner neuen Stellung entläßt, weil Laichler-Raichler ihn als Preller entlarvt, was hier eine Herkunftsbezeichnung ist in der Schweiz. Preller, der Sohn der Stadt Prell. Und hier im Hotel treffen sich alle Akteure wieder? Welche ein Zufall das ist. Gerade hier?
Jaja, nickt der Portier, so ist das Leben. Und dann hätte er ihn umgebracht.
Wer wen?
Der Merder den Raichler oder Laichler.
Wo?
Da! er zeigt auf meinen Sessel.

Wohlbekomms, sagt der Portier und geht.
Ich nehme einen Schluck und blicke ihm nach, dem Portier. Inzwischen ist es dunkel. Ich trinke und denke, und irgendwann blicke ich wieder auf meinen Lederfauteuil. Diesmal genauer. Ist da tatsächlich ein dunkler Fleck, wo ich sitze?
Merder - Mörder, Laichler die Leiche. Der Portier, dieser Hund! Er hats geschafft. Ich hab ihm geglaubt. Ich trinke beherzt das Bierglas nieder, klimpere mich mit meinen Zimmerschlüsseln zum Tresen. Ich sage beiläufig: In Ihrem Fauteuil herrscht mir zu viel Zugluft. Ich geh. Ins Bett.

Er lächelt, der Portier, greift nach der Zeitung unter meinem Arm und betrachtet versonnen das halbgelöste Synonymenrätsel: Jetzt hamses verstanden. Aber hängenS des bittschön nicht an den Großglockner!

Man soll nicht alles glauben, was erzählt wird, odr?
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