15.11.07

Mörder im Hotel

Eine kleine Beherbergungsgeschichte zu Agatha Christie und ihren Kriminalromanen
Von Reinhard Jahn

"Ich begreife nicht, wie so etwas in einem anständigen Hotel geschehen kann."
Agatha Christie: Der Todeswirbel (Taken at the Flood)


Inspektor McDowell von der Polizeistation Yorkshire hatte sich mit seinem Begeleiter unauffällig zum Hydropathic Hotel begeben, einem der größten und elegantesten Hotels in Harrogate.
Jetzt, gegen Abend des 14. Dezember 1926, wartet McDowells Begleiter in der Hotelhalle auf einen bestimmten Gast - den Gast aus Zimmer Nummer 5, eine Dame, die vor etwa zehn Tagen hier abgestiegen ist. Eine Dame - laut Anmeldung Miss Theresa Neele - die während ihres Aufenthaltes im Hydropathic nichts aufregenderes getan hat, als im Salon beim Tee Kreuzworträtsel zu lösen.

An der Rezeption liegt eine Zeitung mit einem groß aufgemachten Bericht über eine Frau, von der Ehemann, Polizei und vor allem vor allem die Boulevardpresse gern wissen möchte, wo sie sich aufhält: Agatha Mary Clarissa Christie, geborene Miller, Schriftstellerin, populäre Krimi-Autorin, ist seit zehn Tagen verschwunden. Seitdem tappt die Polizei im Dunkeln und die Presse brennt ein Schlagzeilenfeuerwerk ab, das heutzutage nur noch Hollywoodstars entfachen können, wenn sie betrunken Auto fahren.
Vor sechs Jahren hat Christie mit "Das fehlendes Glied in der Kette" (The Mysterious Affair at Styles, 1920) ihre Leser für sich und ihren kleinen belgischen Detektiv gewonnen, und erst vor kurzem ist sechster Roman erschienen - "Alibi" (The Murder of Roger Akroyd, 1926) - ein intelligent aufgebautes Verwirrspiel um zwei Morde in dem Dörfchen King's Abbot, mit dessen unkonventioneller Auflösung sich die Christie als eine Meisterin des geschickten plots ausgewiesen hat.

"Where is Mrs Christie?" fragt jetzt die Daily Mail und lobt einhundert Pfund Belohnung für Informationen über den Aufenthaltsort von Agatha aus. Kein Wunder, dass man hinter ihrem Verschwinden nicht mehr und nicht weniger als ein echtes Agatha-Christie-Plot vermutet - ja, vielleicht sogar ein Mord. Der Polizei ist nämlich nicht verborgen geblieben, das es in Mrs Christies Ehe mit dem Weltkriegsflieger Archibald Christie nicht zum besten steht.
Jetzt, an diesem 14. Dezember 1926 ist Archibald Christie aus Lodnon gekommen, weil Inspektor McDowall einen Hinweis erhalten hat, dass die Dame von Zimmer Nummer 5 des Hydropathic eine ziemliche Ähnlichkeit mit der verschwundenen Star-Autorin hat.
"Das Hydro stand in dem Ruf, sehr schick zu sein, gleichzeitig jedoch höchsten medizinischen Ansprüchen zu genügen", schreibt Christie-Biographin Janet Morgan in ihrer peniblen Rekonstruktion der Vorfälle. (Morgan S 221)
Dann ist es soweit, die Dame aus Nummer 5 kommt aus dem Fahrstuhl. Archibald Christie geht auf sie zu - ja, das ist seine Frau, das ist Agatha. "Die allerdings schien in ihm nur einen entfernten Bekannten zu sehen", zitiert Janet Morgen die Hotelverwalterin Mrs Taylor, "dessen Person sie nicht genau einordnen konnte, der ihr allerdings vertraut genug war, daß sie ihm erlaubte, sie in den Speisesaal zu begleiten" (Morgan S 217)

Es ist niemals genau ermittelt worden, warum die Meisterin des gemütlich-komplizierten Detektivromans damals abgetaucht ist. Aber egal, ob sie nun ein Verbrechen oder einen Selbstmord plante, einen plötzlichen Gedächtnisverlust erlitten hatte, oder sich einfach an Archibald rächen wollte - niemand wunderte sich damals wie heute darüber, dass Agatha in einem Hotel der obersten Klasse unterschlüpfte. Weil es einfach selbstverständlich war, dass eine Dame von ihrem Stand und ihrer Popularität einfach in eins der besten Häuser gehörte - ob mit Gedächtnis oder ohne. Auch wer heute für etwa 200 Euro pro Nacht in einem der 136 Zimmer des inzwischen zum Old Swan gewordenen Hydropathic Hotel in Harrogate logiert, wer die Swan Lounge, das Library Restaurant und den Wedgwood Room dort erlebt, spürt sofort die glanzvolle Geschichte des fast 200 Jahre alten Hauses und ahnt noch den Luxus, mit dem das Haus in den Zwanzigern seine Gäste umgab. Eine elegante Kulisse für die bessere Gesellschaft, ein Ort, um zu kuren und dabei zu sehen und gesehen zu werden.

Das Hotel als glanzvolle Bühne des Gesellschaftslebens zieht sich wie eine Indizienspur durch das Leben und das Werk der erfolgreichsten Krimi-Autorin aller Zeiten. Agatha Christie ist 20, als sie mit ihrer Mutter auf der SS Heliopolis nach Ägypten reist und in Kairo im Gezirah Palace Hotel (heute: Cairo Marriott) absteigt, um dort kostengünstig in die Gesellschaft eingeführt zu werden. "Wir blieben drei Monate, und ich besuchte jede Woche fünf Bälle", erinnert sie sich in ihrer Autobiographie. "Sie wurden abwechselnd in den großen Hotels abgehalten." (Autobiographie S 168)
Ein paar Jahre nach ihrem Debüt in Kairo, als Agatha Christie ihre Träume von einer Karriere als Opernsängerin begraben hat, als sie 1920 als Krankenschwester arbeitet und sich an ihrem ersten Kriminalroman versucht, wird sie sich zur Beförderung der kreativen Konzentration ins Hotel Moorland in Hay Tor zurückziehen, um sie Arbeit an der "Mysterious Affair at Styles" zu beenden. "Es war ein großes, trübseliges Hotel mit einer Unzahl von Zimmern und schwach besetzt. Eifrig schrieb ich den ganzen Vormittag, bis mir die Hand wehtat." Hier, in Dartmoor, wo Arthur Conan Doyle knapp 20 Jahre zuvor seine Geschichte von "The Hound of the Baskervilles" angesiedelt hatte, bekam der kleine, skurrile Hercule Poirot seinen letzten Schliff.
Nach ihrem Abstecher ins Harrogate Hydropathic im Jahr 1926, nach ihrer Scheidung von Archibald und mit ihrer neuen Bekanntschaft - ihrem späteren Ehemann Max Mallowan, dem sie auf einer Reise zu archäologischen Grabungen im Irak begegnet, entwickelt sich Agatha Christie in den Jahrzehnten zwischen den Kriegen zu einer Reisenden, die mit der größten Selbstverständlichkeit den Komfort gut geführter Grand-Hotels wie des Tigris in Bagdad oder des Pera Palas in Istanbul nutzt.
Die Erfahrungen daraus verdichtet die "Queen of Mystery" immer wieder zum Schauplatz ihrer Detektivgeschichten.

Genau wie in ihrem wirklichen Leben sind die Hotel ihrer Krimis in der Regel die ersten, die besten Häuser am Platz: das Old Cataract Hotel in Assuan in dessen Garten sich vor Hercule Poirots Augen und Ohren die Intrigen zum "Tod auf dem Nil" entwickeln, das fiktive Bertrams in London, in dem Christie Mitte der sechziger Jahre noch einmal den ganzen Charme eines viktorianisches Grand-Hotels aufleben lässt. Oder einfach das eine oder andere erfundene Ritz, in dem Hercule Poirot während seiner Ermittlungen wohnt.
Die Hotels in den Christie-Krimis sind nichts anderes als eine nur von einem Hauch der Moderne angewehte Variante jenes Schauplatzes der zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer ganzen Untergattung des britischen Detektivroman seinen Namen verliehen hat - das Landhauses. Jedes Ritz oder Grand-Hotel in Britannien, Frankreich, in Ägypten, dem Irak oder der Karibik, das Agatha Christie mit ihrem Stammpersonal aus knarrigen Militärs, ältlichen Adeligen, einer Vielzahl von Ladys und Damen der besseren Gesellschaft, mit unauffälligen Geschäftsleuten und Anwälten und dem obligatorischen kauzigen Geistlichen bevölkert ist nur ein weiterer Außenposten des zerfallenden Empires: Das Hotel als globalisiertes Landhaus.
Man kennt sich und trifft sich zufällig in den Salons und Tearooms des Imperial von Torquay ("Ruhe unsanft", Sleeping murder, 1976) oder von Bertrams Hotel (At Bertram's Hotel, 1965) um Geschäfte oder Intrigen weiterzuspinnen, die bei anderer Gelegenheit in anderen Hotels begonnen wurden oder sich über aktuelle gesellschaftliche Begebenheiten auszutauschen - will sagen: Klatsch und Tratsch zu pflegen.

Bis heute schmücken sich außer dem ehemaligen Hydropathic in Harrogate eine ganze Reihe von Hotels mit der werbeträchtigen Ehre, "die Christie" beherbergt zu haben - angefangen vom Imperial in ihrem Geburtsort Torquay, wo sie ihre Hochzeitsnacht mit Archibald verbrachte, über das Burgh Island Hotel auf einer Tideninsel vor der Küsten von Devon, das die location für "Zehn kleine Negerlein" (Ten little niggers/And then there were none, 1939) lieferte, über das ehemalige Gezira und Kairo bis zum Old Cataract Hotel in Assuan.
Ein Juwel in Christies Hotelsammlung, die sie sich bei ihren Touren zu den archäologischen Grabungsstätten ihres zweiten Mannes Max Mallowan erreiste, ist dabei das Pera Palas Hotel in Istanbul, wo sie mit der Arbeit an einem ihrer berühmtesten Kriminalromane begonnen haben, dem "Mord im Orientexpress" (Murder on the Orient Express, 1934).
Elf Jahre vor ihrem Tod schließlich, als sie mit Ihrem Namen längst weltweit zum Synomyn für "Krimi" geworden - kreiert sie das Christie-Hotel par excellence: "Biegt man, vom Hyde Park kommend, in eine der unscheinbaren Straßen ein, so gelangt man bald in eine ruhige Straße, auf deren rechter Seite »Bertrams Hotel« liegt."
Das Bertrams, das Agatha Christie nach ihrem Londoenr Lieblingshotel dem Brown's Hotel in Mayfair gestaltet, ist das am geschicktesten aufgebaute Kuriosum aller ihrer Hotel-Szenerien.
So wie Agatha ihr Bertram's Hotel schildert, genau so, meint man, müsste heutzutage ein lupenreines Agatha-Christie-Erlebnis-Hotel aussehen: "Draußen an der Treppe, vor den großen Schwingtüren, stand eine Gestalt, die man, auf den ersten Blick wenigstens, für einen Feldmarschall halten konnte, denn Goldtressen und Ordensbänder schmückten die breite, männliche Brust.
Im Innern hatte der Ankömmling - falls es sein erster Besuch in Bertrams Hotel war - das fast beängstigende Gefühl, in eine versunkene Welt versetzt zu sein. Die Zeit war stehengeblieben. Der Gast befand sich wieder im England Edwards VII." (Bertrams Hotel)
In dem klug ausgetüftelten Retro-Ambiente des Bertrams findet amn sich in der Hotelhalle mit den beiden gemütlichen Kohlenfeuern, "flankiert von großen gefüllten Kohleeimern aus Messing, die genauso glänzten wie zu Eduards Zeiten" zum. Five-O-Clock-Tea ein, den Christie mit sanfter Ironie auch gleich als Einstieg in die Geschichte zelebriert.
Selbstverständlich schmückt sich auch das heutige Brown's Hotel mit seinem "Afternoon Tea" und seinem berühmten Gast aus der Krimi-Branche - freilich erst an zweiter Stelle hinter Nobelpreisträger Rudyard Kipling, der im Brown's sein "Dschungelbuch" zu Ende schrieb.
"Es ist eine Frage der Atmosphäre", zwinkert Agatha Christie dem Leser mit den Worten von Hoteldirektor Humfries zu: "Das Hotel muss antiquiert wirken, aber gleichzeitig den modernen Komfort besitzen."
Aber letztlich ist auch das Bertrams dann doch nur ein weiteres Hotel in der Kette von Christies Hotelszenerien, die ihrem Millionenpublikum ihre ebenso phantasievoll ausgetüftelten Mordgeschichten auch heute noch goutierbar machen. Denn das Hotel ist ein universeller Ort, eine Kulisse, die sich dem Leser in der ganzen Welt auf Anhieb bekannt vorkommt.
"So viele Hotels sind ja verschwunden, entweder wurden sie im Krieg ausgebombt oder einfach geschlossen", klagt Miss Marples Nichte, ehe sie für ihre Tante ein Zimmer im Bertrams reserviert. Doch die Hotels die Agatha Christie in ihren Romanen geschaffen hat, sind bestehen geblieben. Bis heute.

ENDE

Brown's Hotel: Vorbild für "Bertrams Hotel" (1965)
Albemarle Street, Mayfair, London W1S 4BP

Burgh Island Hotel: Vorbild für "Zehn kleine Negerlein" und "Das Böse unter der Sonne"
Burgh Island, Devon, TQ7 4BG

Old Cataract Assuan. Teilweise Schauplatz von "Tod auf dem Nil"
Abtal El Tahrir Street, Assuan, Egypt

Pera Palace: Arbeit an "Mord im Orient Express", mit einem "Agatha Christie Zimmer"
Mesrutiyet CD. Tapebasi 98-100, Istanbul 80050


Grand Hotel, Torquay: Hier verbrachte Agatha Christie ihre Hochzeitsnacht
The Grand Hotel Seafront, Torquay, Devon TQ26NT

The Old Swan Hotel: das ehemalige "Harrogate Hydropathic"
Swan Rd, Harrogate, HG1 2SR